Detlef Hecking

Literatur zum Heftthema


Gerd Theißen
Texttranszendenz
Beiträge zu einer polyphonen Bibelhermeneutik
(Beiträge zum Verstehen der Bibel, 36)
Berlin (LIT Verlag) 2019
437 S., € 49,90, ISBN 978-3-643-14246-7

Der Altmeister so vieler neutestamentlicher und hermeneutischer Forschungsgebiete veröffentlicht seit 2014 in der Reihe »Beiträge zum Verstehen der Bibel« des Berliner LIT-Verlages umfangreiche Bände, die er trotz recht unterschiedlicher Fokussierungen alle als Beiträge zu einer »polyphonen Bibelhermeneutik« versteht (vgl. das Vorwort im jüngsten Band »Resonanztheologie«, 9). Es handelt sich bei allen Titeln um thematisch gegliederte Sammlungen von Aufsätzen oder Vorträgen G. Theißens, die er stark überarbeitet, oft neu geschrieben oder erstmals überhaupt veröffentlicht hat. 
Die einzelnen Titel sind:
Polyphones Verstehen. Entwürfe zur Bibelhermeneutik, 2014; 22015;
Veränderungspräsenz und Tabubruch. Die Ritualdynamik urchristlicher Sakramente, 2017;
Texttranszendenz. Beiträge zu einer polyphonen Bibelhermeneutik, 2019;
Resonanztheologie. Beiträge zu einer polyphonen Bibelhermeneutik. Bd. 2: Gott – Christus – Geist, 2020;
Kirchenträume. Kirche in urchristlicher Zeit und Gegenwart. Beiträge zu einer polyphonen Bibelhermeneutik. Bd. 3, angekündigt.

Die grundlegenden Aspekte einer polyphonen Bibelhermeneutik umreißt Theißen so: »Ausgangspunkt ist, dass wir schon in der Bibel eine Pluralität von Standpunkten und Meinungen finden, die sich nicht harmonisieren lassen. Selbst ihre grundlegenden Überzeugungen bestehen in einer spannungsvollen Pluralität von Axiomen und Grundmotiven, dazu kommt eine Offenheit von Sinndeutungen in jedem einzelnen Text: Die Texte beziehen sich ästhetisch auf sich selbst, öffnen historische Durchblicke, setzen ethische Impulse frei, koordinieren das Verhalten von Menschen, weisen auf Gott. (…) Die Polyphonie der Bibel und ihrer vielen Sinndimensionen kann nur durch eine Pluralität von Methoden und Ansätzen zum Klingen gebracht werden. Aber das Motto ›polyphonen Verstehens‹ wurde auch gewählt, weil polyphone Musik eine streng strukturierte Musik ist. Sie hat ein Thema, das variiert, durchgeführt und in andere Lagen versetzt wird. Sie lebt von Nebenthemen und Gegenthemen. Ein solches Thema hat auch die Bibel: Sie ist eine Chance der Kontaktaufnahme mit Transzendenz.« (Polyphones Verstehen, 3)
Im hier vorgestellten Band »Texttranszendenz« legt Theißen den Hauptakzent auf die Reflexion einer doppelten Transzendenz biblischer Texte einerseits auf das Leben und andererseits auf Gott hin: »Diese doppelte Transzendenz ist eine Analogie zum Doppelgebot der Liebe in der Ethik. So wie in diesem Grundgebot des Christentums die Beziehung zu Gott und zum Menschen als ethisch gleichwertig nebeneinandersteht, so betrachten auch diese Aufsätze beide Beziehungen als hermeneutisch gleichwertig, wenn es um das Verständnis der Bibel geht.« (1) Passend dazu stellt Theißen im ersten Hauptteil (33–115) theologische und philosophische Ansätze vor, in denen er beide Aspekte wegweisend reflektiert sieht, darunter M. Dibelius, R. Bultmann, P. Ricœur und U. Luz. Im zweiten Hauptteil (117–271) geht Theißen methodischen Zugängen nach, die für ihn in exemplarischer Weise die menschliche Seite neutestamentlicher Texte entdecken lassen (Literaturgeschichte, Soziologie, Psychologie, Religionswissenschaft und Religionsphilosophie). Im dritten Teil (275–410) erörtert er zentrale Aspekte einer »theologische[n] Theorie der Schrift« (1) wie z. B. ihre Kanonizität, Normativität und den Eigenwert des Alten Testaments, erweitert diese Fragen jedoch auf die Relevanz der Schrift für Gemeinschaftsbildung/Kirche in ökumenischer Perspektive und hebt zudem nachdrücklich die nötige »Pluralismusfähigkeit« der Bibel hervor. In einer knappen Schlussbetrachtung betont Theißen, wie eng die beiden Transzendenzdimensionen biblischer Texte für ihn – entgegen häufig anderer Wahrnehmung – zusammengehören: »Zur theologischen Texttranszendenz tritt eine menschliche Lebenstranszendenz. Um sie zu erfassen, müssen wir alle uns zur Verfügung stehenden human­wissenschaftlichen Kenntnisse aktivieren (…). Das ist keineswegs selbstverständlich. Beide Ansätze erleben sich oft als Konflikt« (411) – den Theißen auflösen möchte.


Hemchand Gossai (Hg.)
Postcolonial Commentary and the Old Testament
London/New York (Bloomsbury Publishing) 2018
344 S., £ 28,99, ISBN 978-0-567-69392-1 
(kart., 2020)

Der Band bietet einen Einblick in die Bandbreite postkolonialer Ansätze in der alttestamentlichen Exegese. Wichtige Leitfragen postkolonialer Exegese werden in der Einleitung so umrissen: »Die Bibel im Allgemeinen und ganz besonders das Alte Testament wurde in das Geflecht des Kolonialismus hineingewoben, und nicht selten wird die Politik des Kolonialismus und Neo-Imperialismus durch Interpretationen der Bibel geprägt. Diese Essays enthalten einige altbekannte postkoloniale Themen wie z. B. die Infragestellung des Imperiums, doch sie enthalten auch andere Themen, die aus den Besonderheiten der Kontexte und Anliegen ihrer Autor:innen hervorgegangen sind.« (1; Übersetzung D.H.)
In diesem Sinne werden in 18 Essays ebenso vieler Autor:innen ausgewählte, für postkoloniale Fragestellungen besonders relevante Texte interpretiert (darunter Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium, Richter, Weisheit, Nehemia, Ester, Jesaja, Jeremia, Jona und Nahum). Eine Vollständigkeit oder systematisierende Vereinheitlichung wird dabei weder für die biblischen Schriften selbst angestrebt (zahlreiche Schriften des AT werden nicht oder nur ausschnittweise interpretiert) noch in Bezug auf die Fragestellung geleistet (die einzelnen Beiträge fokussieren recht unterschiedliche Aspekte, die unverbunden nebeneinander stehenbleiben). Das schmälert die Bedeutung des Bandes jedoch keineswegs, sondern zeigt vielmehr die vielfältige Fruchtbarkeit postkolonialer Fragestellungen auf. So liest z. B. Daniel L. Smith-Christopher das Ester-Buch vor dem Hintergrund von Studien zur Kollaboration unterdrückter Menschen und Völker mit einer dominanten Fremdherrschaft, und Steed Vernyl Davidson sieht im Jona-Buch eine kritische Gegenstimme zum markant anti-imperialen, gewaltsamen Diskurs anderer prophetischer Schriften. – Ein vergleichbarer, postkolonialer Kommentarband zum Neuen Testament wurde bereits 2007 von Fernando F. Segovia und R.S. Sugirtharajah ebenfalls bei Bloomsbury herausgegeben.

Zahlreiche weitere Buchvorstellungen und Rezensionen, die zu den Themen dieses Heftes passen, sind in der Online-Bücherschau unter www.bibelwerk.de/verein/buecherschau zugänglich. Besonders interessante Titel und Fragestellungen können entdeckt werden, wenn die Filterfunktion auf Stichworte wie »Liturgie«, »Hermeneutik« oder »Feministische Exegese« eingestellt wird. Zum Thema Jüdische Schriftauslegung gibt die »Literatur zum Heftthema« in BiKi 74 (2019/4), 249–251, einen Überblick.

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