Hans-Ulrich Weidemann

Literatur zum Heftthema


Sind es Drillinge, Einzelkinder, Stieftöchter oder Adoptivsöhne? Überschaut man die jüngere wissenschaftliche Literatur zu den drei Pastoralbriefen (von der hier nur ein kleiner Ausschnitt vorgestellt werden kann), dann drängt sich ein paradoxaler Eindruck auf: Inhaltlich besteht fast nirgendwo Einigkeit, aber methodisch gibt es einen gewissen Konsens. Zwar ist heftig umstritten, ob die drei Briefe ein Corpus bilden, also von Anfang an und von einem einzigen Autor als Dreiergruppe konzipiert wurden. Aber auch von den Vertreter:innen dieser Corpus-Theorie wird zugestanden, dass das individuelle Profil eines jeden der drei Briefe den Ausgangspunkt bildet. Ebenfalls besteht weitgehend Einigkeit darin, dass die drei Briefe – mindestens aber einer davon – auf eine bereits vorliegende Sammlung von Paulusbriefen bezogen sind. Dass zumindest der erste Timotheusbrief (1 Tim) nicht aus der Feder des Paulus stammt, ist ebenfalls Konsens. Und bemerkenswerterweise sind sich auch alle einig, dass die drei Briefe irgendwie zusammenhängen, auch wenn die Verfechter der Corpus-Theorie ein anderes Modell voraussetzen als ihre Gegner. Alles andere aber ist aktuell ziemlich offen. Dies zeigen exemplarisch die fünf hier vorgestellten Bücher. Sie gehören verschiedenen Gattungen an – ein Aufsatzband, zwei Kommentare, davon ein englischsprachiger, und zwei detaillierte Studien – und illustrieren die ganze Bandbreite der wissenschaftlichen Diskussion um die drei Briefe an Timotheus und Titus.


Jens Herzer
Die Pastoralbriefe und das Vermächtnis des Paulus
Studien zu den Briefen an Timotheus und Titus
Tübingen (Mohr Siebeck) 2022
563 S., 159,00 €
ISBN 978-3-16-154313-5
In dem 2022 erschienenen Aufsatzband sind die Studien zu den Pastoralbriefen gesammelt, die der Leipziger evangelische Neutestamentler Jens Herzer seit 2004 publiziert hat. Herzer lehnt die Corpus-Theorie ab und betont die Unterschiede der drei Briefe. Ungewöhnlich ist, dass Herzer den zweiten Timotheusbrief (2 Tim) und den Titusbrief (Tit) für authentisch paulinisch hält und in der Spätphase des Wirkens des Apostels verortet. Die in den beiden Briefen erkennbaren Kontroversen muss Herzer daher mit den Konflikten aus den letzten Lebensjahren des Paulus verbinden, insbesondere im Umfeld der gescheiterten Kollekte für die Jerusalemer Urgemeinde. So stehe der hochpolemische Tit noch unter dem Eindruck des Konflikts mit seinen Gegnern in Jerusalem, was die ethnisch-stereotype Gegnerpolemik mit ihrer antijüdischen Akzentuierung erkläre. Der 2 Tim stelle demgegenüber das Vermächtnis des Paulus dar. Gerade angesichts der genannten Konflikte wolle der Apostel, dass sein Evangelium als Traditionsgut fixiert, seinen Schülern anvertraut und von diesen weitergegeben wird. 
Von diesen beiden authentischen Paulusbriefen hebt Herzer den 1 Tim deutlich ab. Dieser viel später verfasste pseudepigraphische Brief gehöre in die Auseinandersetzung mit der frühen Gnosis im 2. Jahrhundert. Dafür wolle er die Gemeindestrukturen konsolidieren und das Leitungsgremium stabilisieren. Dies flankiere er mit einer auch innerhalb der Pastoralbriefe neuen und singulären Ekklesiologie, die die Kirche als hierarchisches Haus Gottes strukturiere. Die ›frauenfeindlichen‹ Stellen des 1 Tim erklärt Herzer mit der Bedeutung von Frauen in der frühen Gnosis. Der 1 Tim sei eine (durchschaubare) pseudepigraphische Fiktion (»Was hätte Paulus in dieser Situation gesagt«), aber keine Fälschung. 
Um die vielen Parallelen zwischen dem 1 Tim und den beiden anderen Pastoralbriefen zu erklären, ohne der Corpus-Theorie zu verfallen, postuliert Herzer, dass der 1 Tim die beiden anderen ›Pastoralbriefe‹ kennt und literarisch benutzt. Dafür versucht er den Nachweis, dass zentrale Begriffe zwar in allen Briefen auftauchen (worauf die Verfechter der Corpus-Theorie litaneiartig hinweisen), aber im 1 Tim weiterentwickelt werden. 
Die Aufsätze sind unter vier thematischen Rubriken geordnet: Forschungsgeschichte, Paulusgeschichte und Paulusrezeption, ekklesiologische Themen sowie Glaube und Frömmigkeit unter ethischer Perspektive. Auch jene, die Herzers Datierung und Verhältnisbestimmung der Briefe nicht folgen, können vielfache Anregungen erhalten und Spannendes lernen – nicht zuletzt aus der Forschungsgeschichte zu den Pastoralbriefen seit Schleiermacher und Holtzmann, die Herzer akribisch und kenntnisreich aufarbeitet. 


Michaela Veit-Engelmann
Die Briefe an Timotheus und Titus
Die Pastoralbriefe
Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2022
319 S., 30,00 €
ISBN 978-3-525-56869-9
Die Autorin hat bei Jens Herzer über die Pastoralbriefe promoviert und legt nun den neusten Kommentar zu den drei Briefen in der von Walter Klaiber herausgegebenen Reihe »Die Botschaft des Neuen Testaments« vor. Wie in dieser Reihe üblich, geht es um eine allgemeinverständliche Nachzeichnung des Gedankengangs der Texte und ihre sachbezogene und konzentrierte Auslegung. Am Ende einer jeden Perikope stehen grau hinterlegte Zusammenfassungen, in denen die Autorin auch Einwände und Anfragen aus ihrer persönlichen Sicht formuliert. Dies geht – wie anlässlich des Lehrverbots für Frauen (1 Tim 2,8–15) – bis zur theologischen Sachkritik von der Mitte der Schrift her. Am Ende des Bandes fasst sie dann zunächst die thematischen Schwerpunkte der drei Briefe zusammen, es folgen knappe Darstellungen der Gemeindeordnung, der Ämterlehre, der Irrlehrer-Problematik, des Paulusbildes, der Soteriologie, des Lebens als Christin und Christ sowie des Verhältnisses der Pastoralbriefe zu Paulus und zu anderen Deuteropaulinen. Den Abschluss bildet eine Reflexion auf die Pastoralbriefe und das Christsein im 21. Jh.
Charakteristisch ist, dass die Autorin diese Themen für jeden der drei Briefe einzeln entwickelt. Denn im Gefolge von Jens Herzer lehnt sie die Corpus-These ab, kommentiert die Briefe als Einzelstücke und betont stark ihre Unterschiede. Anders als Herzer hält sie allerdings alle drei Briefe für nachpaulinisch und deutlich nach dem Tod des Apostels entstanden. Veit-Engelmann zufolge wurden sie von drei verschiedenen Paulusschülern verfasst. Der Tit weise als Mandatsschreiben nach Kreta, wo in einem ursprünglich nichtpaulinischen Ambiente Judenchristen aufgetreten seien, die die Observanz jüdischer Speisevorschriften und weiterer Gesetze forderten. In dieser Situation greife ein Paulusschüler auf den Heidenapostel schlechthin und auf den unbeschnittenen Heidenchristen Titus zurück. Mit dem 2 Tim greife ein anderer Paulusschüler in einen Disput innerhalb der Paulusschule ein. Während die Aussage, die Auferstehung sei schon geschehen, vom Verfasser des 2 Tim abgelehnt wird (2 Tim 2,18), wird sie vom Kolosser- und Epheserbrief vertreten, hier stehen sich zwei Flügel der Paulusschule gegenüber. Der 1 Tim schließlich bekämpfe Irrlehrer, die erste Bezüge zur entstehenden Gnosis erkennen lassen, ohne bereits zu den im späteren 2. Jahrhundert belegten gnostischen Systemen zu gehören. 
Das bei diesem Modell entstehende Problem, wie die frappierenden Ähnlichkeiten der Briefe zu erklären sind, löst Veit-Engelmann durch die Annahme, dass die drei Autoren geographisch und vielleicht auch zeitlich nahe zusammengehören. Ergänzend integriert sie Herzers Theorie der literarischen Abhängigkeit in ihr Modell: Der 1 Tim sei als jüngstes der drei Schreiben von seinem Autor unter Kenntnis der beiden anderen verfasst worden. Zum Corpus werden die drei Briefe also erst durch den 1 Tim.
Eigentümlich ist Veit-Engelmanns Einordnung der Pseudepigraphie: Der 1 Tim tut Veit-Engelmann zufolge wenig, um sich einen echt paulinischen Anstrich zu geben, sondern stelle sich unter die Autorität des Paulus, was als legitim galt. Der 1 Tim sei also eine »offene Pseudepigraphie«, die durchschaut werden konnte und sollte. Im Unterschied dazu seien der Titus- und der 2. Timotheusbrief »massive Fälschungen«, da sie – anders als der 1 Tim – Echtheit suggerierten. 


Annette Bourland Huizenga
1–2 Timothy, Titus
Wisdom Commentary
Collegeville (Liturgical Press) 2016
262 S., 49,95 USD
ISBN 978-0-8146-8203-6
Der Kommentar ist bereits 2002 in der Reihe Wisdom Commentary erschienen. Diese Reihe stellt Genderfragen programmatisch in das Zentrum der Auslegung. Es werden aber auch Themen berücksichtigt, die damit intersektional verbunden sind, wie Macht, Autorität, Ethnos/race, Klasse und religiöse Überzeugung. Charakteristisch für die Reihe und auch für den vorliegenden Band ist, dass neben der jeweiligen Autorin auch andere Stimmen zu Wort kommen (drucktechnisch entsprechend hervorgehoben): Es werden ergänzende oder alternative Interpretationen eingespielt, Stimmen und Erfahrungen aus anderen Ländern und Kulturkreisen, aber auch expliziter Widerspruch gegen den biblischen Text. Damit soll deutlich werden, dass es keine definitive und einheitliche feministische Interpretation eines Bibeltextes geben kann. Hinzu kommen viele »Translation matters« zu philologischen Fragen.
Bourland Huizenga macht sich das Programm der Reihe ausdrücklich zu eigen, indem sie die Briefe als Dokumente des Patriarchats (bzw. des Kyriarchats) auslegt. Dabei geht sie von der Corpus-These und der Pseudepigraphie aller drei Briefe durch einen einzigen männlichen Autor aus. Stark betont die Autorin die Unterschiede, ja Widersprüche zu Passagen der echten Paulusbriefe. Ihre feministische Perspektive führt sie zu einer durchgehenden kritischen Positionierung gegenüber hierarchischen Strukturen und Geschlechterstereotypen, wie sie in den Briefen zu finden sind – enthielten diese doch »die sexistischsten, ausgrenzendsten und unterdrückerischsten Lehraussagen« des gesamten Neuen Testaments (vgl. S. lii). Das mache sie zu »beunruhigenden Texten«. Dies bezieht sich aber nicht nur auf Frauen, sondern insbesondere auch auf Sklaven. Die kritische Distanz der Auslegerin zu den von ihr kommentierten Texten bezieht sich nicht nur auf einzelne Spitzenaussagen, sondern auf die patriarchalische Ideologie der Pastoralbriefe insgesamt. Zumal Bourland Huizenga auch die negativen Folgen reflektieren möchte, die die Aufnahme dieser Texte in den christlichen Bibelkanon gezeitigt hat.
Sehr umfangreich (und inhaltlich wenig überraschend) ist die Auslegung der Anweisungen über die Frauen von 1 Tim 2,8–15, in deren Verlauf sie weitere kritische Stimmen zu Wort kommen lässt. Weder die Reichen-Paränese noch theozentrische Passagen wie 1 Tim 2,1–7 stellten je die Ideologie der Eliten des römischen Imperiums in Frage. Anstatt für ein anderes politisches System zu plädieren, werde nur der Gott Jesu an die Spitze eines kyriarchalen Systems gesetzt (»one God at the top of the pyramid«). 


Michael Theobald 
Israel-Vergessenheit in den Pastoralbriefen 
Ein neuer Vorschlag zu ihrer historisch-theologischen Verortung im 2. Jahrhundert n. Chr. unter besonderer Berücksichtigung der Ignatius-Briefe (SBS 229) 
Stuttgart (Verlag Kath. Bibelwerk) 2016 
428 S., 22,80 €
ISBN 978-3-460-03294-1
Thema der umfangreichen Studie, in der zu allen grundlegenden Fragen der Pastoralbriefe Stellung genommen wird, ist die »Israel-Vergessenheit« der drei Schreiben und die mit ihr einhergehende Transformation des Paulusbildes. Die Briefe präsentierten nämlich den Apostel der Heiden ohne Rückbindung an Israel. Theobald spricht sogar vom »ent-judaisierten« Paulusbild. Damit stehen sie im klaren Widerspruch v. a. zum Römerbrief, den sie aber zugleich ausgiebig literarisch benutzen (wenn auch in einer um die Kapitel 15 und 16 gekürzten Fassung) – in diesem Spannungsfeld ist die Studie angesiedelt.
Für Theobald sind die Pastoralbriefe ein pseudonymes Dreiercorpus und von Anfang an als solches konzipiert. Die ursprüngliche Reihenfolge der drei Briefe laute: Tit – 1 Tim – 2 Tim. Die Pastoralbriefe wollen als Paulusbriefe gelesen sein (verdeckte Pseudepigraphie) und wurden von Anfang an programmatisch auf eine vorgegebene Paulusbriefsammlung mit (vermutlich) 10 Briefen hin konzipiert, um deren Lektüre zu steuern.
Ausführlich untersucht Theobald das Itinerar der Pastoralbriefe und rekonstruiert eine fiktive Reiseroute des Paulus von Ephesus über Makedonien und Nikopolis nach Rom. Eine Schlüsselrolle spielen die Ignatiusbriefe, die den in den Pastoralbriefen entworfenen Weg des Paulus nachbilden (Ignatius-Reise als Paulus-Mimesis). Theobald begründet ausführlich, dass die Briefe nicht vom Märtyrerbischof Ignatius selbst stammen, sondern nach dessen Tod in den 60er oder 70er Jahren des 2. Jahrhunderts in Rom entstanden sind, um dort den Monepiskopat durchzusetzen. Sie setzen also die Pastoralbriefe voraus, deren Entstehung Theobald damit auf das zweite Viertel des 2. Jahrhunderts eingrenzen kann. Sie wurden ihm zufolge im Zuge einer Neuedition des Corpus Paulinum abgefasst. 
Im abschließenden »Theologischen Ausblick« thematisiert Theobald am Fallbeispiel der Pastoralbriefe das Scheitern der sog. »kanonischen« Schriftauslegung und skizziert die Umrisse eines historisch verantworteten Umgangs mit den drei Briefen. Dieser beruhe auf der Einsicht in die Genese des Corpus Paulinum und hinterfrage auf dieser Grundlage den theologischen Geltungsanspruch der Pastoralbriefe kritisch. Dies führt Theobald zum Grundsatz einer sozusagen historisch informierten kanonischen Lektüre: »Dem Corpus Paulinum als ganzem wird nur gerecht, wer die Pastoralbriefe an seinem Ende vom Basistext des Corpus an seinem Anfang, dem Brief an die Römer, her kritisch liest.« (S. 387).


Martina Janßen
Corpus Pastorale catholicum
Studien zu Intention und Komposition der Pastoralbriefe
Diss.habil. Göttingen 2019
(erscheint bei WUNT [Mohr Siebeck: Tübingen])
Die demnächst bei Mohr Siebeck erscheinende, bereits im Wintersemester 2018/19 eingereichte Habilitationsschrift trägt den bemerkenswerten Titel: »Corpus Pastorale catholicum. Studien zu Komposition und Intention der Pastoralbriefe.« Dieser Titel, der den wissenschaftlichen Kunstbegriff Corpus Pastorale mit dem lateinischen Namen für die Katholischen Briefe (Corpus Catholicum) verschmilzt, ist von einer Bemerkung im Canon Muratori inspiriert, einem Kanonverzeichnis aus dem späten 2. Jahrhundert, er bringt aber vor allem die These der Arbeit auf den Begriff: Janßen zufolge sind die drei Pastoralbriefe mit der Absicht verfasst, einen allgemeinen (›katholischen‹) Geltungsanspruch der paulinischen Theologie durchzusetzen.
Janßen geht von der Corpus-These und von der Pseudepigraphie aller drei Pastoralbriefe sowie von ihrer Bezogenheit auf eine ältere Sammlung von Paulusbriefen aus. Dennoch setzt sie bei den unterschiedlichen Profilen der drei Briefe an. Anders als viele Vertreter:innen der Corpus-Theorie versucht sie gerade nicht, die Spannungen und Widersprüche zwischen den drei Briefen zu nivellieren. Dass diese Spannungen aber andererseits nicht gegen die Corpus-These sprechen, kann sie durch einen Vergleich mit anderen pseudepigraphen antiken Briefcorpora paganer Provenienz vor allem aus der Kaiserzeit zeigen. Dafür untersucht sie die Phalarisbriefe, die Brieffolge der »Sieben Weisen« und insbesondere das Corpus der Themistoklesbriefe. In diesen multiperspektivisch angelegten Briefcorpora entwirft Janßen zufolge jeder Brief bzw. jede Briefgruppe eine abgeschlossene Erzählung, die dann in Kombination mit den in den anderen Briefen konstruierten Narrativen auf der Corpusebene zum Teil eines Gesamtnarrativs wird, was Spannungen und sogar Widersprüche zwischen den Briefen nicht aus- sondern einschließt. 
Dies führt Janßen zu der Einsicht, dass die drei Pastoralbriefe gerade nicht synthetisch-kumulativ gelesen werden wollen. Das Spezifische der Corpusarchitektur kommt laut Janßen nämlich durch das Zusammenspiel der einzelnen Briefe ans Licht und eben nicht in einer linear-stringenten Erzählung, die sich in einer Zusammenschau der Briefe entwickelt.
Diese Corpusarchitektur sieht so aus: Ein programmatischer Schlüsselbrief, in dem das Grundnarrativ einer personalen Traditionskontinuität entfaltet werde (= 2 Tim), sei mit einem Diptychon aus zwei Briefen kombiniert, in denen das Grundnarrativ in zwei unterschiedlichen Momentaufnahmen entfaltet wird: Einmal anachronistisch-archaisierend zur »Zeit des Anfangs« in einem in der paulinischen Missionstopographie bislang unbekannten Gebiet, nämlich auf der Insel Kreta (= Tit), sodann in der »gegenwärtigen Zeit« an einem wohlbekannten Ort, nämlich der Metropole Ephesus (= 1 Tim). Analog komplementär verhalten sich die Gegner-Konstrukte: jüdisch konnotierte Gegner im Tit und heidenchristlich-(prä)gnostische Gegner im 1 Tim. Durch diese Komposition eines Dreiercorpus werde ein allgemeiner (›katholischer‹) Geltungsanspruch der rechtmäßigen paulinischen Tradition konstruiert und zwar in zeitlich-diachroner als auch in geographisch-synchroner Hinsicht. 
Der 1 Tim wiederum liefert auch Hinweise auf den realen Standort des Autors und seiner Adressaten, die sich gegen eine prä-gnostische markionitische und doketische Paulusdeutung wenden. Auch die im 1 Tim geforderten Gemeindestrukturen deuten auf die reale Situation hin. Für das ganze Corpus der Pastoralbriefe tendiert Janßen zu einer offenen Pseudepigraphie. Die umfangreiche Studie bündelt weite Bereiche der Forschung und führt sie an vielen Stellen kreativ weiter, zumal sie mit den Themistoklesbriefen auch bisher kaum berücksichtigte Briefcorpora erschließt. 

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