Juliane Eckstein

Literatur zum Heftthema


Barbara Haslbeck/Regina Heyder/Ute Leimgruber/Dorothee Sandherr-Klemp (Hgg.)
Erzählen als Widerstand. 
Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche
Münster (Aschendorff) 2020
271 S., 20,- €
ISBN 978-3-402-24742-6.

Dieser Sammelband beschäftigt sich mit sexuellem und spirituellem Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche. Das Buch leistet einen Beitrag zur weiteren Aufdeckung und Aufarbeitung der Taten. Zudem analysiert es theologische und systemische Hintergründe und Ursachen beider Arten von Missbrauch. Der Widerstand, von dem der Buchtitel spricht, entsteht dadurch, dass die gesammelten Stimmen gängigen »Gegennarrative[n]« widersprechen (S. 15). 
Das Buch ist in drei Abschnitte gegliedert. Den ersten Abschnitt und Schwerpunkt bilden anonymisierte Berichte. Frauen schildern Fälle von sexuellem oder spirituellem Missbrauch – oder beidem – an sich selbst oder an anderen Frauen. Der zweite Abschnitt besteht aus wissenschaftlichen Essays. Den letzten Abschnitt bildet die Dokumentation. Sie bietet Betroffenen wichtige Informationen, führt kirchliche Veröffentlichungen auf und stellt die Autorinnen der Essays vor.
Besondere Beachtung verdient, wie in diesem Buch die Rolle der Heiligen Schrift in Missbrauchskontexten zur Sprache kommt. Einerseits schildern die Betroffenen, wie biblische Texte als Manipulationsinstrument eingesetzt werden. In manchen Fällen drängen sich Täter*innen gar in die Rolle Jesu oder Gottes, sodass aus Sicht der Betroffenen Bibeltexte und Tat ineinander verschwimmen. Später haben betroffene Frauen große Mühe, einen persönlichen Zugang zur Heiligen Schrift zurückzugewinnen. In einem dazugehörigen Essay schlussfolgert Hildegard König, dass »Missbrauch im kirchlichen Kontext auch mit einem Missbrauch der Heiligen Schrift einhergeht« (S. 241). 
Auf der anderen Seite erfahren Betroffene die Bibel als spirituelle Ressource und Quelle von Befreiung. Kraftvolle Bibelworte begleiten sie auf ihrer Auseinandersetzung mit dem Geschehenen (Joh 8,32; 10,28–29). In Psalmen und Prophetien (Ps 126,5; Offb 21,4) finden sie eine Sprache für ihre Erlebnisse. In Tamar (2 Sam 13,1–22) sehen sie eine Schwester und ein Vorbild.
Die Herausgeberinnen gestehen selbst ein, dass durch dieses Buch nur ein kleiner Ausschnitt des Problems sichtbar wird: Sowohl die Betroffenen als auch die Autorinnen der Essays stammen ausschließlich aus dem deutschsprachigen Raum. Sie sind vorrangig römisch-katholisch sozialisiert und kirchlich gebunden. Unter ihnen ist der Anteil von Theologinnen und promovierten Frauen außergewöhnlich hoch. Alle sind weiß und mit deutscher Muttersprache aufgewachsen (S. 16). Das Buch kann und will nur ein erster Aufschlag sein, der Anfang eines langen Weges zur sexuellen und spirituellen Selbstbestimmung aller. Aber auf diesem Weg ist es ein Meilenstein. 

 

Klaus Kießling
Geistlicher und sexueller Machtmissbrauch in der katholischen Kirche
Würzburg (Echter) 2021 
88 S., 12,90 €
ISBN 978-3-429-05607-0
Diese Monografie beschäftigt sich sowohl mit geistlichem als auch mit sexuellem Machtmissbrauch in der katholischen Kirche. Folgerichtig ist das Buch in zwei große Abschnitte eingeteilt: der erste geht dem geistlichen Missbrauch nach, der zweite dem sexuellen Missbrauch »an Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Schutzbefohlenen«. 
Dem geistlichen Missbrauch nähert sich Kießling im ersten Teil sowohl aus theologischer als auch aus psychologischer Perspektive. Er betont, dass sich spiritueller Missbrauch nicht nur auf die Gottesbeziehung der Betroffenen auswirke, sondern alle Beziehungen in Mitleidenschaft ziehe. Darauf aufbauend fordert er, liebgewonnene Theologien in Frage zu stellen, besonders eine Theologie, »die speziell den Amtsträgern eine repraesentatio Christi zuschreibt« (S. 23). Dagegen stellt er eine »Diakonie der Stellvertretung« (S. 25). Er fordert, psychologische Einsichten zu berücksichtigen, besonders was Homosexualität anbelangt. Des Weiteren brauche es psychologische Qualitätsstandards für Begleitende.
Der zweite Abschnitt über den sexuellen Missbrauch beginnt und endet mit »ein paar leise[n] Töne[n]«, in denen Kießling betont, dass es keinen Übergang zur gewohnten kirchlichen Tagesordnung geben dürfe, er in vielfältiger Hinsicht zur Verantwortungsübernahme aufruft und auf die hohe Dunkelziffer in diesem Bereich aufmerksam macht. Innerhalb dieses Rahmens analysiert er verschiedene Tatorte – Familien, Pfarreien, Schulen, nennt sexuellen Missbrauch »Seelenmord«, schildert dessen Symptomatik, reflektiert die (Un-)Möglichkeit von Versöhnung, erklärt, wie man Betroffenen in unterschiedlichen Phasen beistehen kann und unterscheidet zwischen den Begriffen Pädophilie und sexuellem Missbrauch an Heranwachsenden. 
Kießling zufolge würden sich verschiedene Akteure ihrer je eigenen Verantwortung für derartige Taten entziehen, indem sie Sündenböcke suchten – die Homosexualität, den Zölibat, die Kirche, die Gesellschaft oder die Medien. Er stellt Kirche und Theologie unangenehme Grundsatzfragen und skizziert erste »Lösungsansätze für strukturelle Problemlagen«. 
Bibelwissenschaften spielen bei Kießling keine Rolle. Nur gelegentlich zieht er einzelne Bibelzitate heran, um seine Ausführungen zu untermauern. Im Kapitel über die (Un-)Möglichkeit von Versöhnung wehrt Kießling die Forderung an Betroffene ab, sie sollten ihren Täter*innen vergeben, indem er auf Lk 23,34 verweist: Jesus am Kreuz habe seinen Mördern nicht vergeben, sondern seinen Vater im Himmel gebeten, dass ER ihnen vergebe (S. 39). Mit Verweis auf eben jene Stelle spricht er sich aber später umgekehrt dafür aus, »die Versöhnungsarbeit mit Opfern und Tätern« nicht zu vernachlässigen (S. 52). 
An diesem Beispiel zeigt sich ein eher punktueller Zugriff auf einzelne Verse oder Perikopen. Größere Zusammenhänge oder bibelwissenschaftliche Erkenntnisse kommen bei Kießling nicht vor. Trotzdem ist dieses handliche Buch (88 Seiten) eine gute Einführung in die Problematik des Missbrauchs, das einen Anstoß für weiteres Nachdenken gibt.

 

Andreas Stahl
»Wo warst du, Gott?« 
Glaube nach Gewalterfahrungen

Freiburg (Herder) 2022
208 S., 20,- €
ISBN 978-3-451-39330-3
Diese Monografie beschäftigt sich mit den Themen Gewalt, Trauma und traumasensibler Seelsorge. Sexuelle und sexualisierte Gewalt wird als eine Ursache von Trauma anerkannt und immer wieder behandelt, ist aber nicht die einzige Form von Gewalt, die in die Überlegungen einbezogen wird. Das Buch führt Erkenntnisse aus vielen unterschiedlichen Fachdisziplinen zusammen, versteht sich aber als explizit theologisches und bekenntnisgebundenes Buch – in ökumenischer Perspektive.
Das Buch besteht aus sechs Kapiteln. Das erste informiert über Gewalt. Das zweite Kapitel vermittelt Grundlagenwissen zu Traumata. Das dritte Kapitel fragt nach dem Zusammenhang zwischen traumatischen Erfahrungen und dem christlichen Glauben. Es hinterfragt die gängige Annahme, dass Traumata fast notwendigerweise zu einem Glaubensverlust führen würden. Während Stahl anerkennt, dass dies durchaus vorkommt, verweist er doch auf den Befund, dass »nur ein relativ kleiner Teil der Betroffenen mit dem Thema Religion und Glauben bricht« (S. 53). Betroffene würden manchmal »eine existentielle Theologie aus der Mitte ihres eigenen Lebens heraus« betreiben (S. 55) und hätten damit »anderen Gläubigen sehr viel zu geben« (S. 54). Gleichzeitig verwahrt sich Stahl dagegen, den Glauben zu Therapiezwecken zu instrumentalisieren. Religion könne man nicht wie ein Medikament einsetzen (S. 73). Zudem dürfe niemandem seine Form der religiösen Bewältigung vorgeworfen werden.
Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit traumasensibler Theologie. Stahl stellt zahlreiche christliche Traditionsbestände auf den Prüfstand – von Familienbildern über Sexualmoral bis hin zu Sünde, Schuld und Vergebung. Ein Kernbegriff in diesem Zusammenhang ist »Positionalität«. Stahl zufolge sei es unmöglich, neutral zu bleiben, wenn man theologisch über Traumata infolge von Gewalt nachdenke. 
Das fünfte Kapitel thematisiert die Rolle christlicher Gemeinden. Zum einen fordert Stahl die weitere Aufarbeitung sexueller Gewalt, deren Prävention sowie die Begleitung Betroffener. Die Perspektive und Interessen der Betroffenen müssten schwerer wiegen als die der Institution. Zum anderen gibt Stahl konkrete Hinweise, was Betroffene von Gemeinden aber auch Einzelnen bräuchten. Ein Schritt von mehreren bestehe darin, die »Heilige Schrift aus der Perspektive von Opfern lesen« zu lernen (S. 151). 
Das sechste und letzte Kapitel schließlich widmet sich traumasensibler Spiritualität. Auch hier finden sich wertvolle Tipps, wie Betroffene sowie Nichtbetroffene ihre Spiritualität entwickeln können, sodass Gewalterfahrungen und Verletzungen ihren Raum haben, aber nicht das letzte Wort bekommen. Auch in diesem Zusammenhang wird der Bibel als »spirituelle Schatzkiste« (S. 175) eine wichtige Rolle zugebilligt. 
Überhaupt erhalten biblische Erzählungen und Referenzen in diesem Buch einen weiten Raum. Gleich das erste Kapitel beginnt mit der Tamar-Erzählung (2 Sam 13,1–22). Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Text werfe unangenehme, aber wichtige Fragen für den Umgang mit Gewalt und Gewaltopfern auf. Später kritisiert er, dass die Einheitsübersetzung in 2 Sam 13,20 die Folgen der Vergewaltigung Tamars nur unzureichend wiedergebe: »Die Übersetzungen reden die Traumafolgen klein« (S. 26). 
Eine theologische Anfrage ergibt sich aus Stahls Nachdenken über Gewalttexte in der Bibel. Er hält fest, dass diese einerseits realistisch seien und den Vorteil hätten, dass sie die Gewalt aufdecken würden. Trotzdem hält Stahl diese Texte für ein so gravierendes Problem, dass er für den Umgang mit ihnen eine evolutionistische Überbietungstheologie vorschlägt. Er hält Gewalttexte für »Vorstufen« (S. 92). Damit aber konterkariert er seine eigene Würdigung dieser Texte und leistet einer Substitutionstheologie Vorschub.
Das Buch ist gut lesbar geschrieben und bereitet wissenschaftliche Erkenntnisse in einer eingängigen Bildsprache auf. Es stellt Menschen mit Gewalterfahrungen als Personen mit spirituellen Ressourcen und Glaubenswegen in den Mittelpunkt, von denen auch Nichtbetroffene viel lernen könnten. Es schließt mit ausgewählten Literaturempfehlungen und Informationen für Betroffene.

Weitere Rezensionen finden Sie in unserer digitalen Bücherschau unter dem Stichwort »Sexualisierte Gewalt«.

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